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JOURNAL EINER TANSANISCHEN REISE

JOURNAL EINER TANSANISCHEN REISE

Keinen einzigen Tag blieb ich von der Realität verschont!


13.7.2014

von Milena Schaller, Gründerin der Stiftung Nuru.

 

 

Der folgende Text, lieber Lwiza, zeugt von meinem tiefen Respekt und meiner grossen Liebe zu dir.

 

Ich sehnte mich danach, «meine Kinder» zu umarmen und so besuchte ich am Donnerstagmorgen, den 3.Juli, kurz nach meiner Ankunft in Dar es Salaam, das Kinderheim Chakuwama. Als ich das schwarze, schwere Tor öffnete, begegnete ich den überraschten Gesichtern der Kinder, die ungläubig meinen Namen riefen und mir in die Arme sprangen. Ein Gefühl des Glücks erfüllte mich und ich wusste, dass ich endlich wieder da war. Da, wo mich die Kinder so bedingungslos lieben.

 

Nach dem Begrüssungsritual betrat ich jenen Raum des Kinderheims, der für den Schulunterricht und als Spiel- und Gebetsraum verwendet wird.

Ich erblickte ein auf dem Boden liegendes Kind, welches mit einem traditionellen Tuch bedeckt war. Ich sah sein eingefallenes Gesicht, seinen ausgestreckten Arm und die offene Hand. Ich näherte mich dem Kind, setzte mich neben ihn auf den Boden und sofort bemerkte er meine Anwesenheit, nahm meine Hand und sagte leise «Dada» (Schwester). Seine Hände waren eiskalt, sein Gesicht war von einer unvorstellbaren Erschöpfung gezeichnet und sein Körper glich jenen Körpern, die man sonst nur auf erschreckenden Bildern im Internet zu sehen bekommt.

 

Noch in derselben Stunde brachte ich Lwiza (ausgesprochen: Luisa) mit einem Taxi in ein privates Spital in Dar es Salaam. Lwiza ist zwischen neun und zwölf Jahre alt und wiegt vierzehn Kilogramm. (Das entspricht dem Normalgewicht eines drei jährigen Kindes.) Seine gesamte Mundhöhle ist von einem aggressiven Pilz befallen, der Junge erbrach im Zehn-Minuten-Takt und der nicht aufhörende Durchfall war die Folge einer extremen Dehydration.

 

Er wurde notfallmässig behandelt und erhielt im Spital die ersten fünf Infusionsbeutel. Lwiza hatte ständig kalt, er zitterte am ganzen Körper. Fünf Stunden später, als er bereits ein kleines bisschen Fisch und Wassermelone gegessen hatte, wurde er in das grösste öffentliche Spital Dar es Salaams transferiert. Ich war die ganze Zeit über bei ihm. Ich streichelte seinen Kopf, seine Hand, massierte seinen Bauch. Lwiza sprach leise, seine Stimme war von Verzweiflung geprägt.

 

Die folgenden Informationen sind von dem Leiter des Kinderheims, einer Ärztin in Dar es Salaam, einem Polizisten und Lwiza selbst. Lwiza ist in Tanga, Tansania, geboren. Über die Umgebung, in welcher der Junge aufwuchs, weiss ich nicht viel. Fakt ist, dass seine Grossmutter Rituale der «Black Magic» (Schwarzen Magie) praktiziert. Für mich klingt das Ganze unvorstellbar und das liegt wahrscheinlich auch daran, dass ich, Gott sei Dank, bis jetzt nur davon hörte, aber niemals Menschen begegnete, die solche Rituale ausführten. Anscheinend nahm Lwiza als kleiner Junge an einem Ritual teil, welches von seiner Grossmutter geleitet wurde. Es ging bei diesem Ritual um eine «Dämonenverschwörung», die Folgendes voraussetzte: Die Teilnehmenden sind nackt und ihre Augen sind geschlossen.

 

Lwiza habe während des Rituals die Augen geöffnet, was bedeutete, dass er vom Ritual ausgeschlossen wurde. Seine letzte Erinnerung: Er wachte alleine in Dar es Salaam auf. Der Junge kannte niemanden in DAR, war hilflos, und suchte sich Menschen, mit denen er seine Zeit verbringen konnte, von denen er sich Schutz und Geborgenheit erhoffte.

 

Leider schloss er sich den falschen Leuten an: Drogenabhängige wurden zu seinen neuen Wegbegleitern. Drogenabhängige sind in DAR für ihre grausame Kriminalität bekannt. Lwiza lebte wohl einige Jahre mit ihnen, bis er im Februar dieses Jahres halb tot von der Polizei gefunden wurde und in jenes Spital gebracht wurde, in welchem ich während meiner Freiwilligenarbeit im Jahre 2012 gearbeitet hatte.

 

Die offenen Wunden in seinem Analbereich, die man im Spital konstatierte, sind die Folge jahrelanger Vergewaltigungen durch seine Wegbegleiter. Die letzten Jahre in Lwizas Leben machen mich immer und immer wieder sprachlos. Welchen seelischen Schmerzen und Leiden ist dieser Junge ausgesetzt worden? Wie konnte Lwiza das alles ertragen? Wie ist es einem Kind möglich, zu überleben, wenn es jahrelang keine einzige Geste der Liebe erfährt?

 

Die körperlichen Folgen des sexuellen Missbrauchs werden Lwiza sein ganzes Leben begleiten: Lwiza ist wegen der zahlreichen Vergewaltigungen HIV-positiv.

 

Weil sich während der vierzehntägigen Behandlung im Mwananyamala Hospital kein gesetzlicher Vertreter Lwizas gemeldet hatte, wurde er von der Polizei ins Kinderheim Chakuwama gebracht, wo ich ihn letzten Donnerstag im beschriebenen Zustand fand. Die Ärzte meinten, einen weiteren Tag ohne medizinische Behandlung hätte sein Leben beendet.

 

Lwiza ist immer noch im grössten öffentlichen Spital DARs (Muhimbili Hospital) und wird dort wegen des HIV kostenlos behandelt. Ich besuche ihn so oft wie möglich, ich bringe Kleider, Decken, Plüschtiere, Windeln usw. Er erhält die Medikation gegen das HI-Virus, ernährt sich momentan nur von einer speziellen Milch, mit welcher die Kinder auf der Unterernährungsstation Schritt für Schritt aufgebaut werden.

 

Sein Gesundheitszustand ist immer noch sehr, sehr schlecht und ich weiss momentan noch nicht, wie sich die Situation entwickeln wird. Schon bald wird Lwiza das Krankenhaus wohl wieder verlassen müssen, denn die Untersuchungen sind zum grössten Teil abgeschlossen und es geht jetzt in erster Linie darum, dass der Junge seine Nahrung und auch seine Medikation täglich verabreicht bekommt. Ein Austritt aus dem Spital würde heissen, dass Lwiza zurück ins Kinderheim Chakuwama müsste.

 

Von Anfang an war für mich klar, dass ich einen besseren, einen anderen Ort finden muss, wo Lwiza sein Leben weiterführen kann. Es geht mir nicht darum, dass der Junge an seinem neuen Lebensort überlebt, sondern vor allem darum, dass er dort, wo er sein wird, Gesten der Liebe erfährt. Dass es dort Menschen gibt, die ihm die Hand halten und sein Gesicht streicheln. Ich möchte, dass er in Würde und in menschlicher Umgebung wachsen kann! Dass er, egal wann und wo sein Leben beendet wird, doch daran glaubt, dass liebende Menschen existieren. Dass er diese Welt mit dem Glauben verlässt, dass sie nicht nur Schrecken und Grausamkeit für uns bereithält.

 

Seit Montagabend ist meine beste Freundin, Fabienne, in DAR. Ihre erste Afrika-Erfahrung war keineswegs behutsam! Wegen meiner Arbeit hier ist auch sie nicht von der Realität verschont worden. Wir kämpfen hier und jetzt zusammen für Lwiza. Unser Tagesablauf ist vor allem vom Kampf für ein besseres Leben Lwizas geprägt. Wir treffen verschiedenste Leute (Sozialämter, Sozialarbeiter, Verantwortliche von verschiedenen wunderbaren Kinderheimen, den Leiter Chakuwamas...) und wir machen kleine, kleine Schritte vorwärts.

 

Es müssen erst noch viele Abklärungen gemacht werden, wir warten auf einen Polizeirapport und einen Rapport des Verantwortlichen des Kinderheims Chakuwama und versuchen so, obwohl es sich als schwierig erweist, ein geborgenes Plätzchen für Lwiza zu finden. Wir halten Sie, lieber Leser, liebeLeserin, sehr gerne auf dem Laufenden.

 

Lwiza hat sich beim Besuch am Donnerstag ein Spielzeugauto von uns gewünscht. Gestern brachten wir ihm einen Autotransporter mit verschiedenen kleinen, farbigen Autos. Lwiza hat zum ersten Mal seit ich ihn kenne gestrahlt! Unzählige Male bin ich ihm mit dem Spielzeugauto über den Arm gefahren, er hat es so genossen. Endlich war sein Gesicht für einen kurzen Moment nicht von Schmerz und Leid gezeichnet.

 

Lieber Leser, liebe Leserin.

 

Die Stiftung NURU erhält durch Schicksale wie das von Lwiza andere, neue Namen. Es ist und war nicht nur Nuru, die keine Chance zum Leben erhielt, es sind noch so viele andere hilflose Kinder. Dass ich schon heute – der Bau des Geburtshauses liegt noch in der Zukunft – dank der Gründung der Stiftung für Kinder wie Lwiza kämpfen kann, macht mich sehr, sehr glücklich und es erfüllt mich mit einer grossen Dankbarkeit.

 

Es ist uns nicht möglich, allen Strassenkinder Tansanias zu helfen, aber was wir bis jetzt schon für Lwiza tun konnten, ist für sein Leben und für sein Dasein auf unserer Welt unsäglich kostbar und genau so gehen wir vorwärts: Schritt für Schritt für Schritt.

 

Lwiza, wir kämpfen für dich, für dein Leben! Wir danken dir, dass du uns aufzeigst, wie sehr unsere Unterstützung gebraucht wird und glaube mir, auch deine Art, dein Leben, deine Geschichte wird mich bis an mein Lebensende begleiten. Seit einigen Tagen gehört fast jeder meiner Gedanken dir und jeder ist von so viel Liebe, von so viel Respekt und von meiner grössten Bewunderung für dich geprägt! Danke, dass ich dich kennen darf. Nuru wird uns mit ihrer Liebe vom Himmel aus segnen.